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News (Wissen) Und vergib uns unsere Schulden (21.02.2012) Jeder Umsturz, jede Revolution beginnt mit Schulden, welche die Gesellschaft nicht mehr bezahlen kann. David Graebers großes Buch ?Debt? zeigt uns, wo wir heute stehen. Eine Befreiung, aus der FAZ.
David Graeber in New York
Dies ist ein herrliches und hilfreiches Buch. Der amerikanische, in England lebende Anthropologe David Graeber hat soeben eine fast fünfhundertseitige Studie veröffentlicht, die den lakonischen Titel ?Debt? (Schuld) und den unbescheidenen Untertitel ?Die letzten 5000 Jahre" trägt. Es ist eine Anthropologie der Schuld und der Schulden und eine Rückeroberung: Endlich kommt einer und entwindet der technologischen Intelligenz der Ökonomie, die immer noch behauptet, die Dinge zu verstehen, einen existentiellen Begriff menschlichen Daseins.

Graeber, einer der führenden Köpfe seines Faches, nennt sich selber einen Anarchisten, was eher darauf zielt, dass er sich keiner Richtung und keiner Partei zuordnen lässt. Er ist, so jedenfalls vermutet die ?Business Week", derjenige, der die amerikanische Occupy-Bewegung gerade zu einer intellektuell anspruchsvollen politischen Bewegung transformiert. Aber ehe Missverständnisse entstehen: Das ist kein sektiererisches und kein agitierendes Buch. Es öffnet dem Leser die Augen für das, was gerade vor sich geht - und was nicht zu verstehen ist, wenn man glaubt, es seien die Zinsen für Staatsanleihen, die über das Schicksal Europas entscheiden, Rechtsbrüche und Demokratiebedrohungen möglich machen.

Was geschieht, ist größer als das, was wir davon lesen. Und auch wenn ein Teil der ökonomischen Kommentatoren versucht, die gegenwärtige Krise von der Finanzkrise des letzten Jahrzehnts abzukoppeln, so wird eine spätere Geschichtsschreibung den Zusammenhang ohne weiteres erkennen. Graebers Text ist eine Offenbarung, weil er es schafft, dass man endlich nicht mehr gezwungen ist, im System der scheinbar ökonomischen Rationalität auf das System selber zu reagieren. Diese Tautologie hat in den letzten Monaten im Zentrum eines funktionsunfähigen Systems dazu geführt, dass praktisch alle Experten einander widersprechen und jeder dem anderen vorwirft, die Krise nicht zu verstehen. Diese enorme Entmündigung hat nichts mehr mit Rationalität, sondern mehr mit Intuition, nichts mehr mit Wissenschaft, sondern mit Theologie zu tun.

David Graebers Geschichte, übrigens die erste ihrer Art aus der Hand eines Anthropologen, zeigt den historischen Ort, an dem wir stehen. Schon die Erzählung zeigt, dass es nicht gut ist, die Erörterung der Schuldenkrise einem Kreis streitsüchtiger Ökonomen zu überlassen. Praktisch alle Aufstände, Umstürze und sozialen Revolutionen der europäischen Geschichte, schreibt Graeber, entstanden aus einer Situation der Überschuldung. Die scheint eine der größten Kräfte in der Entfesselung von Unruhe und Revolte zu sein und eine der über Generationen zyklisch wiederkehrenden Lebensbedrohungen - sowohl für den Einzelnen wie für die etablierte Macht.

Europa droht zu zerfallen

?Löscht alle Schulden, und verteilt das Land neu!? - das, so hat der große Althistoriker Moses Finley geschrieben, sei über Jahrhunderte das einzige und immer wiederkehrende revolutionäre Programm der Antike gewesen.

Zweitausend Jahre später ist es die Selbsttötung eines jungen, hochverschuldeten tunesischen Gemüsehändlers namens Mohamed Bouazizi, die entscheidend die tunesische Revolution und den arabischen Frühling auslöst. In den Vereinigten Staaten demonstrieren in der Occupy-Bewegung keine Berufsrevolutionäre, sondern Menschen, die selbst verschuldet sind: Studenten, die ihre Studentenkredite niemals werden zurückzahlen können, ebenso wie Veteranen, deren Pension verloren ist. Europa droht zu zerfallen, weil seine Staaten überschuldet sind, und es ist mehr als eine besorgte Frage, was geschieht, wenn auch hier immer mehr individuelle Schuldner die Aussichtslosigkeit ihrer Lage erkennen müssen.

Käme Plato mit einer Zeitmaschine zu uns, so schreibt Graeber, er würde sich nicht wundern, Menschen zu sehen, die arbeiten müssen, nicht, um ihr Leben zu leben, sondern um eine Schuld zu bezahlen, für die ihr Leben gar nicht ausreicht. Zu seiner Zeit nannte man sie Sklaven.

Schulden sind ein moralisches Prinzip

Ökonomische Schuldentheorien sind das eine. Aber Schulden sind viel mehr als Ökonomie. Weil wir das nicht mehr wissen, haben wir der Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen Vorschub geleistet. Es sei nur Ökonomie, sagen die Vertreter der technischen Intelligenz, eine ganz einfache Rechnung zwischen Soll und Haben. Aber das stimmt nicht. Warum konnte man Papandreou ?illoyal" nennen, warum sein Volk disqualifizieren, warum sind Rechtsbrüche möglich, und all das auch noch mit gutem Gewissen? Hat Griechenland Europa den Krieg erklärt? Hat es sich aus der Gemeinschaft zivilisierter Staaten verabschiedet? Die Antwort lautet: Schulden sind im Kern ein moralisches Prinzip und eine moralische Waffe - vielleicht, nach der Travestie von Menschenrechtspolitik, die letzte, die unhinterfragt zu existieren scheint.

Aber diese Moral ist machtgebunden. Graeber zeigt, wie seit den Zeiten Mesopotamiens die Schuld ein Versprechen war, dessen Einhaltung mit Gewalt durchgesetzt werden konnte. Darin unterschied sie sich von allen anderen Versprechen dieser Art. Dass der Mensch schuldig geboren werde und diese Schuld abzutragen habe, dieses religiöse Motiv liegt allen Schuldverschreibungen zugrunde.

Die Geschichte der Ökonomie beginnt mit Krediten

Die Anthropologie weiß längst, dass die auf Adam Smith zurückgehende Geschichte ökonomischen Handelns eine Fiktion ist. Noch heute glauben wir, es habe erst den Tauschhandel gegeben, der dann, aus Gründen der Bequemlichkeit, von Geld abgelöst worden ist. Dafür, so Graeber, gibt es keine einzige Quelle. Er unterscheidet recht wirkungsvoll zwischen ?kommerziellen Ökonomien" und ?menschlichen Ökonomien". Tatsächlich beginnt die Geschichte der menschlichen Ökonomie mit Krediten und ohne Geld. Jemand verspricht die Ware, die er erwirbt, später auf irgendeine Weise zu begleichen. Schon das englische Wort ?Thank you" lässt sich auf die etymologische Wurzel zurückführen: ?Ich werde mich daran erinnern, was du für mich getan hast." Geld ist dann nicht eine ?Sache" mit einem immanenten Wert, sondern es beschreibt nur das Verhältnis zwischen Dingen von Wert. Erst als Geld zur Sache wurde und schließlich zu einer creatio ex nihilo, die den Wert aus sich selber schafft, begann es, massiv soziale Beziehungen zu korrumpieren.

Graeber zeigt, wie sich Verschuldung erst als neue soziale Norm etablierte, um sich dann, als moralisches und juristisches Argument, gegen die zu wenden, die drauf reinfielen. Die Unter- und die Mittelschicht Amerikas haben sich verschuldet, um sich Häuser, Stereoanlagen und Autos zu kaufen. Die Griechen offenbar auch. Nur, fragt Graeber: ?Offenbar haben sich diese Leute gesagt: Wenn heute schon jeder ein Miniatur-Kapitalist werden soll, warum sollen wir dann nicht auch Geld aus nichts schaffen dürfen?" Jetzt erkennen sie, dass der AIG erlaubt ist, was ihnen verwehrt ist - ein Blick auf Mesopotamien, das antike Griechenland und Rom zeigt, dass das die Inkubation sozialer Umsturzbewegungen ist. Das Schuldensystem, das auf einer ?Schöpfung aus nichts" aufgebaut ist, hat deshalb in den Augen des Anthropologen nichts mehr mit Märkten und auch nichts mit Wissenschaft zu tun (die Formeln bei AIG mussten von Astrophysikern geschrieben werden, weil sie so schwierig waren), sondern mit Theologie. Wir leben in einer Welt der doppelten Theologie, ?eine für die Geldgeber und eine für die Schuldner".

Beschreibung der ökonomischen Rolle Chinas in der frühen Neuzeit

Diese spannenden historischen Teile (etwa die ökonomische Rolle Chinas in der frühen Neuzeit, das ökonomische Selbstverständnis des Islam mit seinem Verbot des Geldverleihs gegen Zinsen) dienen einem Zweck: Graeber, und darin wohl erkennt man ihn als Anarchisten, will den Blick öffnen dafür, dass es alternative marktwirtschaftliche Gesellschaften geben kann, die funktionsfähig sein können, ohne klassenkämpferisch zu sein.

Man kann die Vielzahl der Nachweise und Beispiele hier nicht annähernd aufzählen. Das ist auch gar nicht nötig. Denn was Graeber im Kern zeigt, ist ganz einfach und sollte allen Technokraten der Krise für ein paar Augenblicke den Atem nehmen: Hohe Verschuldung ist dann eine moralische Existenzbedrohung für Gesellschaften, wenn es möglich wird, dass die, die Geld verleihen, dieses über Schulden finanzieren und dann ihre eigenen Schulden nicht bezahlen. Man kann seinem historischen Befund nicht widersprechen. Was früher Ausnahme in Kriegs- und Krisenzeiten war, ist allmählich zum systemischen Prinzip geworden. Es zerbricht regelmäßig, und das ist offenbar der historische Zeitpunkt, an dem wir uns im Augenblick befinden. Aber warum zerbricht es immer wieder? Weil, so Graebers Befund, man nicht in einem System dauerhaft verschuldet sein kann, das ewig dauert. Dann gilt: ?Man muss sich verschulden, um ein Leben zu leben, das mehr ist als bloßes Überleben."

Sätze von Martin Luther King

Dieser Satz ist vielleicht der dramatischste dieses faszinierenden Werks. Insofern war die Systembedrohung durch den Kommunismus tatsächlich ein Grund für die Selbstdisziplinierung des Finanzkapitalismus.

Die Kodifizierung von Schulden im globalen Ausmaß - man lese nach, wie Graeber das mittelalterliche China beschreibt, das sich durch materielle Zuwendungen über lange Zeiträume ganze Vasallenimperien kaufte - führt zu einer Veränderung von Zivilisationen, die ihren kooperativen Geist immer mehr verlieren. Was hier manchem zu humanistisch klingen mag, kann Graeber auch anders formulieren. In dem Maße, in dem der Staat seine nationalen Schulden über Zentralbanken monetarisiert, wird das Gefühl immer stärker, dass der Staat selbst ein moralischer Gläubiger ist, ein Gläubiger von Freiheit, ?ein Wert, der buchstäblich von jedem Einzelnen einer Gesellschaft besessen wird". Dass dies keine Hypothese ist, zeigt die aktuelle Lage. Die Rede, dass eine ganze Gesellschaft über ihre Verhältnisse lebt, und die fast ausschließlich den angeblich wachsenden Sozialstaat meint, ist die Anwendung des ökonomischen Schuldenprinzips auf die Ebene des moralischen. Nur weil man verschuldet und also ein moralisches Versprechen eingegangen ist, kann man umgekehrt riskieren, als moralischer Gläubiger gegenüber seinem eigenen Volk aufzutreten.

Lichtjahre her sind dann Sätze wie diese von Martin Luther King, die Graeber zitiert: ?Wir sind in die Hauptstadt gekommen, um einen Scheck einzulösen. Als die Architekten unserer Verfassung ihre großartige Präambel schrieben, haben sie einen Wechsel ausgestellt, dessen Erben wir sind. Diese Worte waren ein Versprechen . . . Statt diese Verpflichtung einzuhalten, hat Amerika den Schwarzen einen faulen Scheck gegeben, einen, der zurückkommt mit der Bemerkung: ,ungedeckt'." Man muss ein Anthropologe dieses Ranges sein, um einen solchen Grad an Plausibilität zu erreichen: Wer fordert seinen Scheck von einem Staat, dessen Schuldner man ist?

Bricht die Occupy-Bewegung erst 2012 richtig aus?

Der amerikanische Ökonom Michael Hudson, dessen Studien Graeber viel zu verdanken hat, hält die Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten für prärevolutionär. Ihren wirklichen Ausbruch erwartet er für das Frühjahr 2012. Kein Mensch weiß, ob er recht hat. Aber da wir in einer Welt leben, in der die Erwartungen wichtiger sind als die Ereignisse, ist entscheidend, dass er es glaubt. Denn Michael Hudson lag schon oft richtig. Seine im Mai 2006 unter dem Titel ?Der neue Weg in die Leibeigenschaft" erschienene Voraussage über den Zusammenbruch der Immobilienblase in den Vereinigten Staaten gilt immer noch als prognostisches Meisterwerk.

Graebers Werk zeigt, dass Schulden, so sehr sie uns auch an Ratenzahlungen und den Otto-Versand erinnern mögen oder an die Abstraktion von Billionen Euro aus Brüssel, der revolutionäre Kern unaufhaltsamer gesellschaftlicher Veränderung sind. Es geht um viel mehr als überzogene Dispokredite. Das erste Wort für Freiheit in menschlicher Sprache überhaupt, zeigt Graeber, ist das sumerische ?amargi", ein Wort für Schuldenfreiheit. Unsere Vorgänger, so Graeber, die Könige und Kaiser der alten Zeit, die Fürsten und Gouverneure, hatten am Ende nur drei Auswege. Sie taten nichts, dann ging es ihnen meistens an den Kragen. Sie entschuldeten sich und die Banken, dann entstand eine revolutionäre Lage, manchmal über Generationen hinweg. Oder sie entschuldeten alle.
Die Schöpfung aus dem Nichts

Man lese diese letzten Seiten in Graebers Buch. Sie sind, werden die Ökonomen sagen, die reine Utopie. Die Schöpfung aus dem Nichts. Aber sie tun etwas mit dem Gehirn und dem Bewusstsein: Sie machen klar, dass wir es selber sind, die über unsere Symbole und deren Macht entscheiden. Alles, so sagt Graeber, wurde in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahren in Frage gestellt, angepasst, reformiert, alle Glaubenssätze durchgespielt, ein Markt der Ideen, die am Ende keinem weh taten, außer einer: dass man seine Schulden bezahlen müsse. Das gilt für den Studenten, der er einmal war, und es gilt für den Hausbesitzer. Und weil es immer gilt und immer galt, darum ist diese Gegenwart so dramatisch: ?Jetzt wissen wir, dass dies eine Lüge war. Wie wir jetzt sehen, müssen eben nicht ,alle' ihre Schulden bezahlen. Nur einige von uns müssen. Nichts wäre wichtiger, als den Tisch aufzuräumen für jeden, unsere eingeübte Moralität in Frage zu stellen und neu zu beginnen."

Man sollte sich nicht damit beruhigen, dass die amerikanische Verhältnisse andere sind. Das sind sie. Aber längst ist jeder Bundesbürger verschuldet. Längst hat diese Schuld zu einem autoritären Zuwachs des Staates geführt, der jetzt zunehmend unkontrolliert Opfer verordnen kann und vor allem wird. Noch haben die meisten Deutschen offenbar das Gefühl, dass sie die Schulden abbezahlen können. Ändert sich dies, ändert sich alles.



David Graeber: ?Debt. The First 5000 Years". Mellville House, 554 Seiten ?Löscht alle Schulden, und verteilt das Land neu!" - Aus der FAZ

 

News (Wissen) Und vergib uns unsere Schulden (21.02.2012) Jeder Umsturz, jede Revolution beginnt mit Schulden, welche die Gesellschaft nicht mehr bezahlen kann. David Graebers großes Buch ?Debt? zeigt uns, wo wir heute stehen. Eine Befreiung, aus der FAZ.
David Graeber in New York
Dies ist ein herrliches und hilfreiches Buch. Der amerikanische, in England lebende Anthropologe David Graeber hat soeben eine fast fünfhundertseitige Studie veröffentlicht, die den lakonischen Titel ?Debt? (Schuld) und den unbescheidenen Untertitel ?Die letzten 5000 Jahre" trägt. Es ist eine Anthropologie der Schuld und der Schulden und eine Rückeroberung: Endlich kommt einer und entwindet der technologischen Intelligenz der Ökonomie, die immer noch behauptet, die Dinge zu verstehen, einen existentiellen Begriff menschlichen Daseins.

Graeber, einer der führenden Köpfe seines Faches, nennt sich selber einen Anarchisten, was eher darauf zielt, dass er sich keiner Richtung und keiner Partei zuordnen lässt. Er ist, so jedenfalls vermutet die ?Business Week", derjenige, der die amerikanische Occupy-Bewegung gerade zu einer intellektuell anspruchsvollen politischen Bewegung transformiert. Aber ehe Missverständnisse entstehen: Das ist kein sektiererisches und kein agitierendes Buch. Es öffnet dem Leser die Augen für das, was gerade vor sich geht - und was nicht zu verstehen ist, wenn man glaubt, es seien die Zinsen für Staatsanleihen, die über das Schicksal Europas entscheiden, Rechtsbrüche und Demokratiebedrohungen möglich machen.

Was geschieht, ist größer als das, was wir davon lesen. Und auch wenn ein Teil der ökonomischen Kommentatoren versucht, die gegenwärtige Krise von der Finanzkrise des letzten Jahrzehnts abzukoppeln, so wird eine spätere Geschichtsschreibung den Zusammenhang ohne weiteres erkennen. Graebers Text ist eine Offenbarung, weil er es schafft, dass man endlich nicht mehr gezwungen ist, im System der scheinbar ökonomischen Rationalität auf das System selber zu reagieren. Diese Tautologie hat in den letzten Monaten im Zentrum eines funktionsunfähigen Systems dazu geführt, dass praktisch alle Experten einander widersprechen und jeder dem anderen vorwirft, die Krise nicht zu verstehen. Diese enorme Entmündigung hat nichts mehr mit Rationalität, sondern mehr mit Intuition, nichts mehr mit Wissenschaft, sondern mit Theologie zu tun.

David Graebers Geschichte, übrigens die erste ihrer Art aus der Hand eines Anthropologen, zeigt den historischen Ort, an dem wir stehen. Schon die Erzählung zeigt, dass es nicht gut ist, die Erörterung der Schuldenkrise einem Kreis streitsüchtiger Ökonomen zu überlassen. Praktisch alle Aufstände, Umstürze und sozialen Revolutionen der europäischen Geschichte, schreibt Graeber, entstanden aus einer Situation der Überschuldung. Die scheint eine der größten Kräfte in der Entfesselung von Unruhe und Revolte zu sein und eine der über Generationen zyklisch wiederkehrenden Lebensbedrohungen - sowohl für den Einzelnen wie für die etablierte Macht.

Europa droht zu zerfallen

?Löscht alle Schulden, und verteilt das Land neu!? - das, so hat der große Althistoriker Moses Finley geschrieben, sei über Jahrhunderte das einzige und immer wiederkehrende revolutionäre Programm der Antike gewesen.

Zweitausend Jahre später ist es die Selbsttötung eines jungen, hochverschuldeten tunesischen Gemüsehändlers namens Mohamed Bouazizi, die entscheidend die tunesische Revolution und den arabischen Frühling auslöst. In den Vereinigten Staaten demonstrieren in der Occupy-Bewegung keine Berufsrevolutionäre, sondern Menschen, die selbst verschuldet sind: Studenten, die ihre Studentenkredite niemals werden zurückzahlen können, ebenso wie Veteranen, deren Pension verloren ist. Europa droht zu zerfallen, weil seine Staaten überschuldet sind, und es ist mehr als eine besorgte Frage, was geschieht, wenn auch hier immer mehr individuelle Schuldner die Aussichtslosigkeit ihrer Lage erkennen müssen.

Käme Plato mit einer Zeitmaschine zu uns, so schreibt Graeber, er würde sich nicht wundern, Menschen zu sehen, die arbeiten müssen, nicht, um ihr Leben zu leben, sondern um eine Schuld zu bezahlen, für die ihr Leben gar nicht ausreicht. Zu seiner Zeit nannte man sie Sklaven.

Schulden sind ein moralisches Prinzip

Ökonomische Schuldentheorien sind das eine. Aber Schulden sind viel mehr als Ökonomie. Weil wir das nicht mehr wissen, haben wir der Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen Vorschub geleistet. Es sei nur Ökonomie, sagen die Vertreter der technischen Intelligenz, eine ganz einfache Rechnung zwischen Soll und Haben. Aber das stimmt nicht. Warum konnte man Papandreou ?illoyal" nennen, warum sein Volk disqualifizieren, warum sind Rechtsbrüche möglich, und all das auch noch mit gutem Gewissen? Hat Griechenland Europa den Krieg erklärt? Hat es sich aus der Gemeinschaft zivilisierter Staaten verabschiedet? Die Antwort lautet: Schulden sind im Kern ein moralisches Prinzip und eine moralische Waffe - vielleicht, nach der Travestie von Menschenrechtspolitik, die letzte, die unhinterfragt zu existieren scheint.

Aber diese Moral ist machtgebunden. Graeber zeigt, wie seit den Zeiten Mesopotamiens die Schuld ein Versprechen war, dessen Einhaltung mit Gewalt durchgesetzt werden konnte. Darin unterschied sie sich von allen anderen Versprechen dieser Art. Dass der Mensch schuldig geboren werde und diese Schuld abzutragen habe, dieses religiöse Motiv liegt allen Schuldverschreibungen zugrunde.

Die Geschichte der Ökonomie beginnt mit Krediten

Die Anthropologie weiß längst, dass die auf Adam Smith zurückgehende Geschichte ökonomischen Handelns eine Fiktion ist. Noch heute glauben wir, es habe erst den Tauschhandel gegeben, der dann, aus Gründen der Bequemlichkeit, von Geld abgelöst worden ist. Dafür, so Graeber, gibt es keine einzige Quelle. Er unterscheidet recht wirkungsvoll zwischen ?kommerziellen Ökonomien" und ?menschlichen Ökonomien". Tatsächlich beginnt die Geschichte der menschlichen Ökonomie mit Krediten und ohne Geld. Jemand verspricht die Ware, die er erwirbt, später auf irgendeine Weise zu begleichen. Schon das englische Wort ?Thank you" lässt sich auf die etymologische Wurzel zurückführen: ?Ich werde mich daran erinnern, was du für mich getan hast." Geld ist dann nicht eine ?Sache" mit einem immanenten Wert, sondern es beschreibt nur das Verhältnis zwischen Dingen von Wert. Erst als Geld zur Sache wurde und schließlich zu einer creatio ex nihilo, die den Wert aus sich selber schafft, begann es, massiv soziale Beziehungen zu korrumpieren.

Graeber zeigt, wie sich Verschuldung erst als neue soziale Norm etablierte, um sich dann, als moralisches und juristisches Argument, gegen die zu wenden, die drauf reinfielen. Die Unter- und die Mittelschicht Amerikas haben sich verschuldet, um sich Häuser, Stereoanlagen und Autos zu kaufen. Die Griechen offenbar auch. Nur, fragt Graeber: ?Offenbar haben sich diese Leute gesagt: Wenn heute schon jeder ein Miniatur-Kapitalist werden soll, warum sollen wir dann nicht auch Geld aus nichts schaffen dürfen?" Jetzt erkennen sie, dass der AIG erlaubt ist, was ihnen verwehrt ist - ein Blick auf Mesopotamien, das antike Griechenland und Rom zeigt, dass das die Inkubation sozialer Umsturzbewegungen ist. Das Schuldensystem, das auf einer ?Schöpfung aus nichts" aufgebaut ist, hat deshalb in den Augen des Anthropologen nichts mehr mit Märkten und auch nichts mit Wissenschaft zu tun (die Formeln bei AIG mussten von Astrophysikern geschrieben werden, weil sie so schwierig waren), sondern mit Theologie. Wir leben in einer Welt der doppelten Theologie, ?eine für die Geldgeber und eine für die Schuldner".

Beschreibung der ökonomischen Rolle Chinas in der frühen Neuzeit

Diese spannenden historischen Teile (etwa die ökonomische Rolle Chinas in der frühen Neuzeit, das ökonomische Selbstverständnis des Islam mit seinem Verbot des Geldverleihs gegen Zinsen) dienen einem Zweck: Graeber, und darin wohl erkennt man ihn als Anarchisten, will den Blick öffnen dafür, dass es alternative marktwirtschaftliche Gesellschaften geben kann, die funktionsfähig sein können, ohne klassenkämpferisch zu sein.

Man kann die Vielzahl der Nachweise und Beispiele hier nicht annähernd aufzählen. Das ist auch gar nicht nötig. Denn was Graeber im Kern zeigt, ist ganz einfach und sollte allen Technokraten der Krise für ein paar Augenblicke den Atem nehmen: Hohe Verschuldung ist dann eine moralische Existenzbedrohung für Gesellschaften, wenn es möglich wird, dass die, die Geld verleihen, dieses über Schulden finanzieren und dann ihre eigenen Schulden nicht bezahlen. Man kann seinem historischen Befund nicht widersprechen. Was früher Ausnahme in Kriegs- und Krisenzeiten war, ist allmählich zum systemischen Prinzip geworden. Es zerbricht regelmäßig, und das ist offenbar der historische Zeitpunkt, an dem wir uns im Augenblick befinden. Aber warum zerbricht es immer wieder? Weil, so Graebers Befund, man nicht in einem System dauerhaft verschuldet sein kann, das ewig dauert. Dann gilt: ?Man muss sich verschulden, um ein Leben zu leben, das mehr ist als bloßes Überleben."

Sätze von Martin Luther King

Dieser Satz ist vielleicht der dramatischste dieses faszinierenden Werks. Insofern war die Systembedrohung durch den Kommunismus tatsächlich ein Grund für die Selbstdisziplinierung des Finanzkapitalismus.

Die Kodifizierung von Schulden im globalen Ausmaß - man lese nach, wie Graeber das mittelalterliche China beschreibt, das sich durch materielle Zuwendungen über lange Zeiträume ganze Vasallenimperien kaufte - führt zu einer Veränderung von Zivilisationen, die ihren kooperativen Geist immer mehr verlieren. Was hier manchem zu humanistisch klingen mag, kann Graeber auch anders formulieren. In dem Maße, in dem der Staat seine nationalen Schulden über Zentralbanken monetarisiert, wird das Gefühl immer stärker, dass der Staat selbst ein moralischer Gläubiger ist, ein Gläubiger von Freiheit, ?ein Wert, der buchstäblich von jedem Einzelnen einer Gesellschaft besessen wird". Dass dies keine Hypothese ist, zeigt die aktuelle Lage. Die Rede, dass eine ganze Gesellschaft über ihre Verhältnisse lebt, und die fast ausschließlich den angeblich wachsenden Sozialstaat meint, ist die Anwendung des ökonomischen Schuldenprinzips auf die Ebene des moralischen. Nur weil man verschuldet und also ein moralisches Versprechen eingegangen ist, kann man umgekehrt riskieren, als moralischer Gläubiger gegenüber seinem eigenen Volk aufzutreten.

Lichtjahre her sind dann Sätze wie diese von Martin Luther King, die Graeber zitiert: ?Wir sind in die Hauptstadt gekommen, um einen Scheck einzulösen. Als die Architekten unserer Verfassung ihre großartige Präambel schrieben, haben sie einen Wechsel ausgestellt, dessen Erben wir sind. Diese Worte waren ein Versprechen . . . Statt diese Verpflichtung einzuhalten, hat Amerika den Schwarzen einen faulen Scheck gegeben, einen, der zurückkommt mit der Bemerkung: ,ungedeckt'." Man muss ein Anthropologe dieses Ranges sein, um einen solchen Grad an Plausibilität zu erreichen: Wer fordert seinen Scheck von einem Staat, dessen Schuldner man ist?

Bricht die Occupy-Bewegung erst 2012 richtig aus?

Der amerikanische Ökonom Michael Hudson, dessen Studien Graeber viel zu verdanken hat, hält die Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten für prärevolutionär. Ihren wirklichen Ausbruch erwartet er für das Frühjahr 2012. Kein Mensch weiß, ob er recht hat. Aber da wir in einer Welt leben, in der die Erwartungen wichtiger sind als die Ereignisse, ist entscheidend, dass er es glaubt. Denn Michael Hudson lag schon oft richtig. Seine im Mai 2006 unter dem Titel ?Der neue Weg in die Leibeigenschaft" erschienene Voraussage über den Zusammenbruch der Immobilienblase in den Vereinigten Staaten gilt immer noch als prognostisches Meisterwerk.

Graebers Werk zeigt, dass Schulden, so sehr sie uns auch an Ratenzahlungen und den Otto-Versand erinnern mögen oder an die Abstraktion von Billionen Euro aus Brüssel, der revolutionäre Kern unaufhaltsamer gesellschaftlicher Veränderung sind. Es geht um viel mehr als überzogene Dispokredite. Das erste Wort für Freiheit in menschlicher Sprache überhaupt, zeigt Graeber, ist das sumerische ?amargi", ein Wort für Schuldenfreiheit. Unsere Vorgänger, so Graeber, die Könige und Kaiser der alten Zeit, die Fürsten und Gouverneure, hatten am Ende nur drei Auswege. Sie taten nichts, dann ging es ihnen meistens an den Kragen. Sie entschuldeten sich und die Banken, dann entstand eine revolutionäre Lage, manchmal über Generationen hinweg. Oder sie entschuldeten alle.
Die Schöpfung aus dem Nichts

Man lese diese letzten Seiten in Graebers Buch. Sie sind, werden die Ökonomen sagen, die reine Utopie. Die Schöpfung aus dem Nichts. Aber sie tun etwas mit dem Gehirn und dem Bewusstsein: Sie machen klar, dass wir es selber sind, die über unsere Symbole und deren Macht entscheiden. Alles, so sagt Graeber, wurde in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahren in Frage gestellt, angepasst, reformiert, alle Glaubenssätze durchgespielt, ein Markt der Ideen, die am Ende keinem weh taten, außer einer: dass man seine Schulden bezahlen müsse. Das gilt für den Studenten, der er einmal war, und es gilt für den Hausbesitzer. Und weil es immer gilt und immer galt, darum ist diese Gegenwart so dramatisch: ?Jetzt wissen wir, dass dies eine Lüge war. Wie wir jetzt sehen, müssen eben nicht ,alle' ihre Schulden bezahlen. Nur einige von uns müssen. Nichts wäre wichtiger, als den Tisch aufzuräumen für jeden, unsere eingeübte Moralität in Frage zu stellen und neu zu beginnen."

Man sollte sich nicht damit beruhigen, dass die amerikanische Verhältnisse andere sind. Das sind sie. Aber längst ist jeder Bundesbürger verschuldet. Längst hat diese Schuld zu einem autoritären Zuwachs des Staates geführt, der jetzt zunehmend unkontrolliert Opfer verordnen kann und vor allem wird. Noch haben die meisten Deutschen offenbar das Gefühl, dass sie die Schulden abbezahlen können. Ändert sich dies, ändert sich alles.



David Graeber: ?Debt. The First 5000 Years". Mellville House, 554 Seiten ?Löscht alle Schulden, und verteilt das Land neu!" - Aus der FAZ